Wie relevant ist emotionale Intelligenz?

Intelligenz wird in unserer Gesellschaft außerordentlich großgeschrieben. So verwundert es auch nicht, dass Intelligenztests schon in der Schule, der Ausbildung und erst recht bei der Berufs- und Personalauswahl eingesetzt werden. Der gemessenen Intelligenz trauen wir offensichtlich sehr viel zu!  Zu viel?

Die Entwicklung und Karriere einer Person hing noch nie allein von ihrem Wissen, ihrem logischen Denken und ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit ab. Ein intelligenter Emporkömmling ist schon oft an seiner sozialen Inkompetenz eklatant gescheitert.

Der Erfolgsmensch von heute zeichnet sich noch durch ganz andere Qualitäten aus, wie z.B. Kommunikationsgeschick, Konfliktlösungsfähigkeit, emotionale Selbstkontrolle und Empathie. Das und noch viel mehr verbirgt sich hinter emotionaler Intelligenz.

 

Was ist emotionale Intelligenz?

Herr D. ist in der ehemaligen DDR groß geworden, hat die mittlere Reife. Ist eigentlich gelernter Baggerfahrer und hat eine Ausbildung zum Baumaschinisten. Nach der Wende suchte er sein berufliches Glück im Westen der Republik. Er wollte Geld verdienen, sah seine Stärken im Vertrieb und war sehr ehrgeizig. Typ Straßenköter, der es verstand, sein Revier abzustecken und wenn nötig, mit Beißattacken zu verteidigen. Alles nahm seinen Lauf: Zusatzausbildungen, Bezirksleitung, Verkaufsleitung, Geschäftsführung eines mittelständigen Vertriebsunternehmens. Er wusste mittlerweile: Der Erfolg war nicht nur das Resultat seiner eigenen Leistung, sondern irgendwie auch das seiner Mitarbeiter. Und irgendwie hatte er wohl ein Händchen dafür, seine Mitarbeiter positiv zu beeinflussen, zu motivieren, Mehrleistung aus ihnen herauszuholen, Identifikation und Leidenschaft zu entfachen. Und wohin ihn seine berufliche Reise auch verschlug, ehemalige Mitarbeiter und Kollegen folgten ihm. Bis heute.

Herr D. ist nicht Fiktion, sondern ein Fall aus meiner beruflichen Praxis. Als Personal- und Unternehmensberater kreuzen sich unsere Wege seit nunmehr 25 Jahren. Er ist emotional intelligent!

Spätestens seit Daniel Goleman seinem Buch den Titel „Emotionale Intelligenz“ verlieh, nehmen auch hartgesottene, ellbogengestählte Erfolgsmenschen diesen Begriff immer wieder gerne in den Mund. Das besondere an der emotionalen Intelligenz ist, dass es dabei sowohl um den Umgang mit sich selbst geht, als auch um den mit anderen Menschen. Emotionale Intelligenz beschreibt demnach das Selbstmanagement und die Selbsterfahrung auf der einen Seite und Kompetenzen und Fähigkeiten im Umgang mit anderen Menschen auf der anderen.

Was ist aber daran intelligent?

Zu dem normal gängigen Begriff der Intelligenz gibt es keine feste Definition, sondern vielmehr diverse verschiedene Theorien. Intelligens (lat.) bedeutet so viel wie einsichtig, verständig. Das lateinische Verb intellegere bedeutet unterscheidend wahrnehmen, erkennen, verstehen, einsehen. Insgesamt geht man davon aus, dass die kognitive Geschwindigkeit und die Reaktionszeit Rückschlüsse auf die Intelligenz einer Person erlauben. Intelligenz lässt sich also durch die Geschwindigkeit der korrekten Verarbeitung bestimmter Informationen erkennen.

Überträgt man dies auf die emotionale Intelligenz, dann würde diese dadurch definiert, wie erfolgreich eine Person unterschiedliche Emotionen bei sich oder anderen korrekt wahrnehmen und identifizieren kann und wie schnell sie dies tut.

 

Kann man emotionale Intelligenz lernen oder trainieren?

Emotionale Intelligenz wird von vielen Faktoren bestimmt, einschließlich der Genetik und der Erfahrungen aus der Kindheit. Eine Studie aus dem Jahr 2017 zeigte, dass emotionale Intelligenz ein entscheidender Faktor für den späteren Erfolg und die Zufriedenheit ist. Kinder unterschiedlichster sozialer Hintergründe wurden mit Lernprogrammen trainiert, die die emotionale Intelligenz förderten. Sie sollten damit später erfolgreicher im Leben werden, als die Kontrollgruppe. Die Ergebnisse wurden über einen Zeitraum von einem halben Jahr bis zu 18 Jahren nach Beendigung der Studie erfasst: Die Kinder der Experimentalgruppe absolvierten 11% häufiger ein Studium, waren weniger verhaltensauffällig, hatten weniger psychische Probleme und wurden zu 13,5% weniger festgenommen als die Probanden der Kontrollgruppe.[1]

Emotionale Intelligenz scheint also in frühen Kindheitsjahren förderbar zu sein.

Ist sie aber auch später noch erlern- oder trainierbar?

Ich antworte mal mit einer Gegenfrage: Kann man im Alter noch Noten lesen lernen, ein Musikinstrument spielen, eine Fremdsprache lernen? Man kann natürlich alles. Die Frage ist nur, wie schnell und wie gut sich dies entwickelt. Ob man mit derselben Geschwindigkeit irgendwann Noten lesen kann wie jemand, der dies im Alter von 5 Jahren erlernt hat, bleibt zu bezweifeln.

Es fängt wie so oft immer bei einem selbst an. Die Wahrnehmung und selbstkritische Reflexion persönlicher Emotionen, der eigenen Persönlichkeit und Handlungsweisen ist sicherlich die wertvollste Grundlage und Voraussetzung dafür, dies auch bei anderen Menschen tun zu können. Die eigenen Gefühle, Stimmungen und Bedürfnisse zu kennen und zu verstehen hilft, diese auch bei anderen Menschen zu erkennen, besser zu akzeptieren und darauf zu reagieren. Zu lernen und zu verstehen, unter welchen Umständen emotionale Zustände wechseln und sich verändern können, entwickelt emotionale Intelligenz. Nehme ich Emotionen wahr, kann ich sie auch nutzen. Verstehe ich sie, kann ich sie auch beeinflussen.

So hat auch Herr D. angefangen, sich Gedanken darüber zu machen, warum und wie er Emotionen, Leistungen, Einsatzbereitschaft und Loyalität bei seinen Mitarbeitern positiv beeinflussen kann. Hat sich hierzu von einem Experten coachen lassen, der ihm kritisch den Spiegel vorhielt, um seine Führungspraktiken mehr an die emotional-sozialen Gegebenheiten und Erfordernisse der Belegschaft anzupassen.

Er hat sich im Erfolg wie auch im Misserfolg tiefer reflektiert. Hat nach Alternativen gesucht, die in seinem eigenen Handeln und Fühlen zu finden sind. Er hat stärker auf die Signale bei anderen Menschen geachtet wie z.B. Mimik, Körpersprache oder Tonlage und diese nicht einfach ignoriert. So machte auch er Erfahrungen, die ihm dabei halfen, Emotionen wahrzunehmen – bei sich wie bei anderen, die er so zuvor nicht gesehen hat. Und er fing an, Emotionen aktiv und bewusst aufzunehmen, damit zu arbeiten, sie auf Seiten anderer Menschen zu beeinflussen.

Ist Herr D. jetzt emotional intelligenter?

Herr D. besaß offensichtlich schon eine gehörige Portion emotionaler Intelligenz, ohne es wirklich zu wissen. Er baute sie weiter aus, lernte, übte, trainierte. Eigene emotionale Schnellschüsse und kurzfristig auftretende cholerische Anwandlungen wurden ersetzt durch Konfliktlösung, Empathie und emotionale Regulation. Er hat sich weitergebildet, aber vor allem weiterentwickelt.

Ob sich die Geschwindigkeit, mit der er Emotionen bei sich oder anderen richtig lesen und identifizieren kann, wirklich verändert, bleibt dahingestellt. Aber er versteht es mit Sicherheit, sie noch besser zum eigenen Vorteil und dem anderer einzusetzen.

 

Warum ist emotionale Intelligenz so wichtig?

Herr D. kommt beruflich aus dem Vertrieb sehr hochpreisiger Produkte des Gesundheitssektors. Diese Produkte will eigentlich niemand zu Hause haben, da sie anderen die eigene gesundheitliche Einschränkung vor Augen führen. Sie lassen sich nur über Emotionen erfolgreich verkaufen, durch das Verstärken von Kaufmotiven auf Seiten der Kunden. Wie funktioniert das? Durch das Hinterfragen und aktive Eingehen auf die Bedürfnisse seitens der Kunden. Und diese sind immer wieder anders. Aktives Zuhören ist das eine. Schnelles, intuitives Wahrnehmen und Erkennen der empfangenen Signale sowie ein situativ-angemessenes Eingehen darauf ist das andere. Genau das macht den Erfolg aus.

Dies hat Herr D. zunächst im Vertrieb gelernt und später auf seine Führungsaufgaben erfolgreich übertragen.

Für mich ist das Beispiel von Herrn D. ein Beleg für das Erfordernis, neben einer möglichst gut ausgeprägten kognitiven Intelligenz auch eine gut ausgeprägte emotionale Intelligenz zu besitzen. Es erleichtert uns sicherlich, Aufgaben und Herausforderungen aus dem beruflichen wie auch persönlichem Umfeld besser zu meistern.

Um den Blick kurz auf rein berufliche Aspekte zu werfen: Natürlich gibt es berufliche Aufgaben, in denen die Wahrnehmung von Emotionen des Gegenübers oder der eigenen Emotionen irrelevant ist. Wo die Ablenkung durch das ständige Wahrnehmen von und Befassen mit Emotionen hinderlich sein kann, da wenig oder gar nicht am oder mit anderen Menschen gearbeitet wird. Nicht selten haben Personen mit einer niedrigen emotionalen Intelligenz ganz andere Stärken, die sie besonders für diese Position qualifizieren. Das war so und wird auch sicherlich so bleiben.

 

Fazit

Es gibt aus meiner Sicht überhaupt keinen Zweifel daran, dass emotionale Intelligenz denselben hohen Stellenwert besitzt wie kognitive Intelligenz. Beides entscheidet je nach Situation mehr oder auch weniger über mein erfolgreiches Handeln, Verhalten und Reagieren. Emotionale Intelligenz beschreibt umgangssprachlich vielleicht das „WIE man etwas am oder mit Menschen angelehnt tut“ und kognitive Intelligenz vielleicht eher das „WAS man tut“.

Ich frage mich ehrlich gesagt nur, warum das Thema emotionale Intelligenz erst jetzt einen solchen Run erfährt! Das alles ist nichts Neues, wurde vielleicht früher als „soziale Intelligenz“ oder „multiple Intelligenz“ bezeichnet. Und zuweilen beschleicht mich der Eindruck, dass sich eine Heerschar Berater und Coaches auf das Thema „emotionale Intelligenz“ stürzen, um ihre Dienstleistungen rund um dieses Thema auf den Markt zu werfen.

An dieser Stelle wiederhole ich mich gerne noch einmal: Ein intelligenter Emporkömmling ist schon oft an seiner sozialen Inkompetenz eklatant gescheitert.

 

 

[1] https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1111/cdev.12864

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.